TERRITORIUM

TERRITORIUM

Grenzüberschreitungen im Leben der Anderen

Colmar Schulte-Goltz

Norbert Bauer arbeitet mit Motiven, die bekannt wirken. Die Bilder sind präsent, als habe man sie schon oft gesehen; so entfalten sie eine besondere Anziehungskraft. Die Gemälde mit den übersichtlichen Bildräumen haben es „in sich“ und verstehen es die Betrachter/innen lange Zeit zu beschäftigen. Es sind die „wahren Lügen“ der Mediengesellschaft.

Bei aller Nähe zur Wirklichkeit vertritt der Künstler einen gemäßigten Realismus und vermeidet eine allzu naturalistische Anmutung. Sein Stil ist durch den Verzicht auf Binnendifferenzierung und genaue Details von eher flächig-grafischem Charakter. Alle Arbeiten zeichnen sich durch eine Ästhetik aus, die auf den Betrachtenden sowohl vertraut und selbstverständlich, als auch verstörend und eigen wirkt. Die Bilder sind häufig von glatter Kühle. Vom eigentlichen Motiv der Vorlage entfernt sich Bauer in seinen Gemälden durch eine verfremdete Farbgebung und eine distanzierte Inszenierung. Nichts lenkt vom Wesentlichen seiner Darstellungen ab, die seltsam objektiv wirken. Innerhalb der zeitgenössischen Malerei in Deutschland ist Norbert Bauer zu einem profilierten Vertreter eines sachlich nüchternen Blicks auf die Wirklichkeit und ihre Übermittlung in den Medien geworden.

Norbert Bauer entwickelt seine künstlerische Arbeit aus einer intensiven Auseinandersetzung mit Themen der unmittelbaren Zeitgeschichte. In seinem konsequent angelegten Oeuvre finden sich viele Themengruppen, die in die unmittelbare Gegenwart verweisen. Das Wort „Verweis“ ist in seinem Schaffen von besonderer Bedeutung. Schließlich stellt der Künstler nicht im Sinne klassischer Historienmalerei einen bestimmten Anlass dar, sondern arbeitet mit vermittelten und durch die Medien vervielfältigten Bildern von Situationen, die häufig im Zusammenhang mit einem prekären Sachverhalt stehen. Bauer ist kein Chronist, der sich um Sachlichkeit und Wahrhaftigkeit in der Wiedergabe bemüht; er erschafft Bilder nach eigenen Gesetzen. Im Gegensatz zur traditionellen Historienmalerei, die zumeist für einen Auftraggeber entstand und Sympathie für eine spezielle Sichtweise eines Sachverhaltes erweckt oder durch die dynamische, respektive dramatische, Schilderung eines Ereignisses zu Sympathie für Protagonisten und Empathie für Opfer verführen soll, hält Bauer in seinen Bildern zu allem Sinnlichen Distanz. Seine Bilder sind zugleich glasklar und rätselhaft und vermeiden jede umgängliche Vertrautheit. Alles Subjektive, alles Gefühlvolle ist aus den Bildern eliminiert.

Seit gut einem Jahrzehnt hat Norbert Bauer ein konsequentes Oeuvre geschaffen, in dem er sich in serieller Arbeitsweise und fast wissenschaftlicher Konsequenz einzelnen Motivgruppen widmet. Anfänglich hat er überwiegend kleinformatig, fast miniaturhaft gemalt und dann im mittleren Format, in der Größe alter Kabinettbilder, seine bevorzugte Bildgröße gefunden. In den letzten Jahren entstanden schließlich immer mehr wandfüllende Arbeiten mit dem Charakter von Panoramen. Sein Werk umfasst die ganze Bandbreite der malerischen Gattungen, von Landschaften über Stillleben und Bildnissen bis zu Gruppen- und Ereignisbildern. Die inhaltliche Klammer dieser unterschiedlichen Sujets begründet sich in Norbert Bauers Interesse für das Individuum und seine Chancen in der Gesellschaft. Der Maler verfolgt Schicksale und Lebenswirklichkeiten ihm persönlich nicht bekannter Menschen. Auf diese wird er durch Abbildungen aufmerksam, die er in Printmedien, in Fernsehberichten und Internet findet.1 Norbert Bauer stellt in seinen Arbeiten Fragen: Wie wahr kann ein Bild sein, zu welchen politischen, sozialen oder historischen Umständen steht es in Beziehung? Damit thematisiert er Möglichkeiten und Bedingungen der Bildenden Kunst im Medienzeitalter. Obwohl er bei der Selektion und Genese seiner Motive die modernsten Medien nutzt, entstehen Norbert Bauers Bilder ausschließlich in Handarbeit in Acryl auf Leinwand oder Nessel und unter Verwendung echter Pinsel.

Mit sicherem Gespür findet der Künstler in den Medien Bilder, die sich als Stereotypen etwa von Milieustudien entlarven und damit wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung immer wieder ein Klischee bestätigen. Im Laufe der Jahre hat er ein Archiv von Bildern angelegt, in denen Fragen von Gesellschaften und Kulturen, von sozialen Netzen oder globalen Problemen gestellt werden. Der Maler scheint geradezu fasziniert von Bildern. Bei seinen Recherchen begegnet Bauer manchen Bildern häufiger als anderen, da sie von einer Meldung zur anderen immer wieder übernommen werden. Manche Motive erscheinen unberührt von den Details eines bestimmten Kontextes in den unterschiedlichsten Zusammenhängen. Dies bestätigt zum einen die Kraft, den bleibenden Eindruck oder die scheinbare Glaubwürdigkeit des verwendeten Bildes an sich, aber zerstört auch den Glauben an die authentische Zugehörigkeit eines Bildes zu einem konkreten Sachverhalt. Hinter dem Bild an sich wird seine Funktion, als Illustration, also begleitende, einer Stimmung schaffenden Bebilderung offensichtlich.

Die größte Präsenz in den Medien haben Bilder von Tatorten, von Tätern und Opfern. Besonders eindrucksvoll, von geradezu absurder Monströsität sind die Selbstinszenierungen von jugendlichen Amokläufern. Die mit Selbstauslöser gemachten Bilder von Attentätern, die im Begriff sind wahllos möglichst viele Mitschüler/innen oder Kommilitonen zu töten, sind seit einigen Jahren in allen Medien präsent. In diesen Kontext gehören die Vorlagen zu einem eindrucksvollen Bilderpaar. Der Protagonist in den beiden Bildern Spectre 1 und 2 (2007) ist der koreanische Student Cho Seung Hui. Im ersten Bild blickt dieser einmal aus dem Bild heraus (Spectre 1), im zweiten senkt er den Blick (Spectre 2). Cho Seung Hui ist Teil unseres kollektiven Gedächtnisses geworden. Weder wegen einer herausragenden akademischen Karriere noch wegen seines korrekten Namens. Er wird ewig „der koreanische Student einer technischen Hochschule in den USA“ bleiben, wo er scheinbar unvermittelt bei einem Amoklauf 33 Menschen ermordet hat. Mit seiner Selbstinszenierung erreichte das Genre der Schulattentäter die Universität. Selten wurde weltweit mehr über die mediale Seite der Amokläufer gesprochen. Diese „News-“ oder „Peergroup“ entwickelte einen eigenen Stil mit ästhetischen Merkmalen, die Beobachter/innen, die selbst eigene Taten vorbereiteten, als Vorbild dienten. Bei den folgenden Attentaten wurden so bestimmte Formen der Inszenierung des Täters wieder aufgenommen. So haben sich auch bei dem Massaker im Baden-Württembergischen Winnenden im März 2009 einige Muster wiederholt. Inzwischen braucht jedes Attentat eine Ankündigung im Internet. Wenn sie fehlen sollte, holt sogar jemand Anderes dies nach und perfektioniert die Tat zurEinhaltung des medialen Musters.2 Sich mit einem Mörder zu vergleichen ist also nicht nur im Milieu der Kreativen in, wie bei Helmut Newton, der sich Bewunderern schon früher als „Gun for Hire“, also als Auftragskiller empfahl oder bei Karl Lagerfeld, der sich selbst gern Serienmörder beschreibt, weil ihm Rache physisches Vergnügen bereitet.3

Beide Gemälde zu Cho Seung Hui erscheinen wie Nachbilder der unglaublichen Tat. Norbert Bauer will in seinen Arbeiten sicher nicht nur den Attentäter wiedergeben, er möchte Bilder festhalten. Die einfache Wiedergabe wäre ihm zu reißerisch. Durch die Tontrennung und die wenigen Farben entfernt sich Bauer in seinem Bilderpaar sehr vom tatsächlichen Ab- und Vorbild. Er betont und überzeichnet seine Version des Ausgangsmaterials, das dadurch klar umschrieben wird. Durch sein differenziertes Vorgehen erzeugt der Künstler seinen typisch geheimnisvollen Stil. Der Urheber weiß mehr, als er verrät. Maler und Bildbetrachtende kennen die Tatsachen. Norbert Bauer stellt sich als Maler aber stets die Frage, ob die beiden Bilder in ihrer ahnungsvollen Qualität ohne die Informationen auch allein wirksam sind. Im Wesentlichen geht es also für ihn darum wie der Attentäter zum Bild wird.

Norbert Bauers Bildern ist der Zweifel an der allgegenwärtigen Reizüberflutung mit ihren Folgen in Trivialisierung und Abstumpfung eingeschrieben. Grenzen des persönlichen Handlungsspielraumes und Grenzüberschreitungen sind damit sein Thema. Ein Thema übrigens, das er in seinen Adaptionen gefundener Bilder immer wieder inszeniert. Es ist der Blick in das Leben der Anderen, in deren Territorien. Das Territorium ist nicht nur das Hoheitsgebiet eines Staates. Bei näherer Auseinandersetzung wird dieser Begriff, den der Künstler für die Präsentation im Stadtmuseum Hattingen gewählt hat, immer vielfältiger. Der Ausstellungstitel setzt Bezüge sowohl zu staatlichen, geografischen oder geistigen Räumen, deren Grenzen allesamt nicht auf ewig festgelegt sind, sondern einem ständigen Wechsel unterliegen. „Das letzte Territorium“, so Norbert Bauer, „ist das des Beobachtens, Fragens, Verknüpfens, Erinnerns, neu Erfindens usw. Der letzte Ort der Souveränität, wo eine eigene Version der Realität entstehen kann. Also auch ein noch neu zu entdeckendes Gebiet, ein Bereich der Möglichkeiten.“

Die Analyse der einzelnen Gemälde dieses Kataloges wird zeigen, wie Norbert Bauer selbst seine Arbeiten in einer anspielungsreichen und indirekten Art zum Begriff „Territorium“ in Beziehung setzt. Mehrmals wird die Hoheitsgrenze eines Gebietes thematisiert, selten so eindeutig wie bei seiner Arbeit Grenze, die einen Wald zeigt. Im Wald (Nacht IV) zeigt eine Szene des inoffiziellen Grenzübertritts mit Schleppern oder Flüchtenden. Die Hoffnungen auf ein neues Leben in einem neuen Land mit anderen politischen und ökonomischen Bedingungen übertragen sich auf Sea of Gold. Bei Guantanamo Beach wird der prekäre Begriff des Territoriums auf ein Hoheitsgebiet außerhalb des Staatsgebietes erweitert.

Das Territorium als Terrain des geistigen Eigentums wird in der Arbeit Projektion (Aufschlagstelle Luna 2) bis zum Mond ausgedehnt. Der Ausstellungstitel „Territorium“ lässt sich auf die eigene Vorstellungswelt von Norbert Bauer im Allgemeinen beziehen, die Ausstellung selbst ist das Territorium des Künstlers, das im Katalog eine dauerhafte Dokumentation erfährt.

Die Arbeiten Norbert Bauers geben in ihrer unnachahmlichen Weise Aufschluss über die Reflexion von Bildern: Es sind Bilder über Bilder, und dass, ohne eine eindeutige Reflexionshaltung des gefundenen Motivs für das eigene Gemälde vorzugeben.

Das Interesse Bauers für beobachtete Situationen Anderer wird besonders in der großformatigen Arbeit Im Wald (Nacht IV) von 2008 deutlich. Hier ist diffus ein dynamisches Geschehen zu erkennen: Drei Personen sind auszumachen; eine scheint einen Rucksack mit sich zu führen. Bei der Vorlage handelt sich um ein journalistisches Bild mit brisantem Inhalt. Aufgeladen durch die Kontextualisierung wird vor allem der Ort zum Thema. Warum findet die Szene im Wald statt? Der Wald, der schon im Märchen schicksalhaft erscheint, ist ein Ort, an dem die Zivilisation in die Ferne rückt. Besonders der nächtliche Wald wirkt sehr geheimnisvoll. Vielleicht handelt es sich bei diesem Abschnitt um eine markante Stelle, zum Beispiel um eine Grenze. Die Szene könnte einen illegalen Grenzübertritt zeigen. Die ahnungsvolle Atmosphäre reproduziert eine Ästhetik, die wir mit Überwachungskameras in Verbindung bringen. Das magische Halbdunkel erinnert an die großen Naturstücke im Werk des Fotografen Thomas Struth, die Ingo Hartmann 2002 als zugleich archaisch und utopisch charakterisiert hat.4 Der Wald ist der rechtsfreie Ort schlechthin. Und er ist besonders austauschbar – er kann im Prinzip überall auf der Welt sein. Wälder und Walddarstellungen wirken immer vertraut. 5

Ganz explizit ist die Grenze Thema und Motiv in der gleichnamigen großformatigen Arbeit Grenze (2008). Die Darstellung kann wegen der Nadelbäume mit deutschen Waldgebieten in Verbindung gebracht werden. Das Motiv füllt das große Bild fast aus. Die Komposition ist recht unkonventionell und hebt sich stark von traditionellen Waldlandschaftsdarstellungen ab. Statt dunkleren, detailreichen Schilderungen im Vordergrund und einer Farbperspektive, die durch Hell-Dunkelentwicklung das Suggestionspotential des Tiefenraumes verantwortet, um ein besonderes Naturphänomen herauszustellen, arbeitet dieser Wald mit dem Phänomen des Allover. Die Arbeit weckt Assoziationen; ähnelt dem in den Medien vermittelten Blick aus einem Hubschrauber auf ein Waldgebiet, in dem zum Beispiel eine vermisste Person gesucht wird. Nur auf der linken Seite ist über den Baumwipfeln etwas blauer Himmel zu sehen. Der Wald wird hier mit einer Selbstverständlichkeit gezeigt, die auf soziologische Referenzen weitgehend verzichtet und in der Fülle der Details vor allem Stille vermittelt.

Kompositorisch ungewöhnlich ist der weiße Streifen am unteren Rand des Gemäldes. Dieser verweist auf die profane Herkunft des mysteriösen Bildes. Es stammt von einer privaten Homepage mit Bildern einer Vatertagstour durch das Grenzgebiet zwischen Bayrischem Wald und Böhmerwald.6 Wie bei den anderen Bildern hat Bauer auch diese Vorlage intensiv am Computer bearbeitet. Das Motiv ist durch Farbveränderungen relativ trist geworden, die Kontraste gestärkt. Die Farb- und Lichtwerte sind aus unterschiedlichsten Situationen und Bildvorlagen zusammengestellt. Deshalb leuchtet der Boden so skurril; die Lichter sind überdehnt. Bauers Malerei kreist hier also um die Erscheinungsweise eines Motivs und seine ästhetische Vermittlung. Durch den weißen Streifen wird die Grenze zwischen Bild und Bildträger, Bild und Bildschirm thematisiert. Wo ist die Grenze des jeweiligen Bildes? Wie eng kann man sich einem Bild nähern? Hier scheint der Künstler eine der wesentlichen Fragen der Rezeption von Bildern zu berühren, die kunsthistorisch vor allem in Bezug auf die Flaggendarstellungen von Jasper Johns gestellt wurden: „Is it a flag or is it a painting?“ Auch Jasper Johns wollte kein Abbild produzieren. Wie Johns’ Bilder damals, ist auch dieses Bild eines Waldes kein Fenster mehr – weder nach Innen noch nach Außen –, sondern das Thema selbst: Es zeigt, was es ist, es ist, was es zeigt. Nicht weniger und doch mehr.7 Jasper Johns hat damit einen Faktor der Popart vorweggenommen, der schließlich bei Andy Warhol darin mündet, dass man aus allem ein Bild machen kann und schlussendlich aus allem ein Produkt.8 Norbert Bauers Interesse an der Grenze als Bildmotiv ist auch in anderen Sparten der aktuellen Kunstproduktion ein wichtiges Thema.

Im großformatigen Gemälde UUSSAA (2008) sitzen zwei Figuren auf einer langen Bank in etwas Abstand zu einem Lagerfeuer. Das Motiv schließt an die Bilder von Grenzen und Wäldern an und geht auf den Bericht eines Freundes zurück, der nach einer Südamerikareise abends an der Grenze von Mexiko zu Panama gestrandet war. Nach der Öffnungszeit der Grenzeinrichtungen versammeln sich die unterschiedlichsten Aspiranten auf einen Grenzwechsel am Folgetag im Niemandsland. Am Lagerfeuer steht die Zeit scheinbar still. Genauso spielt das Kleinformat Das Blaue Licht (2009) mit der Darstellung eines Lagerfeuers in Grün mit blauen Figuren auf das Geschäft mit der Grenzüberschreitung an und erscheint wie das Nachbild oder der Abdruck einer Geschichte.

Eine besonders prägnante Arbeit ist sicherlich Sea of Gold (2008). Zehn Flüchtlinge überqueren auf einem kleinen Boot das Mittelmeer von Afrika Richtung Italien. Im Gegensatz zu vielen niedergedrückten und ausgelaugten Flüchtlingen, die in den Medien unser Mitgefühl ansprechen, erscheinen die Zehn wie Abenteurer, die aufmerksam und stolz Neuland entdecken wollen. Anders als bei den meisten Motiven hat Norbert Bauer hier in die gefundene Vorlage ästhetisch nur wenig eingegriffen. Seine Interventionen beschränkten sich vor allem auf das Meer, das er wesentlich dunkler darstellt. Die Wasserfläche ist darüber hinaus in parallel laufende Streifen gegliedert, wie sie ein Tintenstrahldrucker generiert.

Bei diesem Gemälde handelt es sich um einen gemalten Ausnahmezustand. Die Flucht aus einem durch Krieg oder ökonomische Hoffnungslosigkeit geprägten Land und der Aufbruch in ein anderes sind große Themen. Die berühmteste Darstellung der Verstoßenen auf dem Meer stammt von Théodore Géricault. Sein Floß der Medusa, (Le radeau de la Méduse) von 1819 zeigt die Extreme sich selbst überlassener Menschen auf einem Floß, die bis zum Kannibalismus führten. Das Bild des französischen Meisters war damals in seiner drastischen Schilderung eines zeitgenössischen Geschehens einzigartig und hielt die Erinnerung an diese Tragödie lebendig. Durch die Vielzahl der Medienberichte aus aller Welt ist die Anzahl der humanitären Katastrophen heute kaum mehr zu erfassen. Angesichts unserer von Horrormeldungen gesättigten Medienkultur ist Norbert Bauers Gemälde ein Statement, das nicht in dramatischer Überhöhung, sondern gerade durch seine sachliche Form zum Diskurs über die politischen, historischen, soziologischen und
philosophischenDimensionen von
Flucht und Fluchtursachen einlädt.10

Ein anderer Ausnahmezustand scheint in der kleinformatigen Arbeit Nacht 1(2006) dargestellt zu sein. Ein Paar Hände mit hygienischen Gummihandschuhen in Blau reckt dem Betrachtenden eine Auswahl verschiedener abgepackter Kokainportionen entgegen, wie sie zum Schmuggeln im Körper präpariert werden. Gerade solchen Vorgängen gilt die Aufmerksamkeit aller Beteiligten an den von Norbert Bauer so häufig thematisierten Grenzen. Die Gummihandschuhe verweisen auf hygienische Laborumgebungen, wie sie zugleich auf der Seite der Rauschgiftindustrie, wie auf der Seite der Rauschgiftfahndung zu finden sind. Beide sind Teil des Fortschritts im Sinne Walter Benjamins: „Der Begriff des Fortschritts ist in der Katastrophe zu fundieren. Sie ist nicht das jeweils bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene.“11

Sterile Verhältnisse sind auch das Kennzeichen der Arbeitsumgebung von acht fleißigen Frauen mit rosa Kitteln, Häubchen und grünem Mundschutz. Das Produkt der Arbeit ist nicht näher zu bestimmen. Die Frauen sind im Gemälde Nacht II ganz von ihrer Arbeit absorbiert. Sichtlich nur ein Ausschnitt aus einer noch größeren Zahl von Arbeiterinnen werkeln sie aufmerksam vor sich hin. Ihre Arbeitsfläche ist geradezu mystisch beleuchtet, während das komplette Umfeld in Dunkel getaucht ist.

Besondere, geradezu magische, Lichtverhältnisse bestimmen auch ein anderes wichtiges Gemälde. Die Stadt (2003)zeigt Belgrad im Nato-Bombardement. Wieder hat Norbert Bauer eine Bildvorlage entdeckt, durch starke Eingriffe verändert und so zu seinem Bild gemacht. Er hat die Stadtansicht zu einem Nachtbild verwandelt. Den Himmel, der voller Rauchschwaden war, hat er einheitlich rot gefärbt. Durch die Entfernung eines Coca-Cola-Schriftzugs von einem der Gebäude wirkt die Stadtsilhouette allgemeiner. Unklar ist, was passiert.

Humor oder Witz sind in den hintersinnigen Bildern von Norbert Bauer nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Ein Beispiel dafür ist die – folgerichtig fast miniaturhafte – Arbeit You better not believe every word you hear (2009). Zu sehen ist eine Ikone amerikanischer Kultur, ein Texaner. Hier erscheint allerdings seine Travestieausgabe, es ist eine mit Schnurrbart und Sonnenbrille verkleidete Frau. Der Bildtitel fordert Aufmerksamkeit und kritische Überprüfung von akustischen und visuellen Informationen.

Regelrechte Stillleben sind im Werk Norbert Bauers selten zu finden. Besonders anspielungsreich ist eine Darstellung von Flip-Flops, einem Stoß weißer Laken und Plastikflaschen. Der orange Overall ist das erste Störelement in diesem scheinbaren Stillleben mit belanglosen Strandutensilien. Der Titel Guantanamo Beach(2003) schließlich bringt das Dargestellte wieder mit dem historischen Kontext zusammen. Hier handelt es sich um das Begrüßungspaket für einen neuen Gefangenen in Guantanamo, dem zu trauriger Berühmtheit gekommenen Lager für Terrorverdächtige auf Kuba.

Auch die Zusammenstellung in Flick Knife(2004)ist von doppeldeutigem Charakter. Sprühdose, Rasierer und Kamm sind vielfach zu finden. Das Messer erweitert den Blick auf den möglichen Gebrauch der Gegenstände genauso, wie die Buttons, die über die Ablage verstreut sind. Ausgerechnet der weitaus größte Teil der Darstellung ist einheitlich hellblau und trägt nichts zur Klärung des Sachverhaltes bei. Es ist ein besonders gutes Beispiel für die ahnungsvolle Wirkung von Bauers Arbeiten.

 Von allen Bildern des Künstlers löst Park (2004), wie kein zweites, Assoziationsketten aus. Die Türen dieser großen, fast Format füllenden Mercedes-Limousine stehen offen. Kein Mensch ist zu sehen. Zusammen mit den Papierstücken am Boden wirken die Abwesenheit von Menschen und die Verlassenheit des Autos bedrohlich. Diese Szene löst viele weitere Bilder aus, die mit den Attentaten auf prominente Persönlichkeiten der Bundesrepublik durch die RAF in Verbindung stehen.

Norbert Bauer arbeitet gern mit Bilderpaaren. Im Gegensatz zu klassischen Pendants, die als Gegenstücke grundsätzlich zur gleichen Bildgattung gehörend zwei Aspekte des Motivs darstellen, haben Bauers Paare häufig nur ein ähnliches Format gemeinsam. Die beiden Gemälde Die Allee(2008) und Die Zelle(2008) könnten kaum gegensätzlicher sein. Das Landschaftsbild der Allee zeigt hinter einer zentral gesetzten Baumkrone die in einander übergehenden Kronen mehrerer nebeneinander stehender Bäume, die sich perspektivisch links niedriger werdend dahinter abzeichnen. Die Atmosphäre ist dämmrig dunkel. Durch die perspektivische Verzerrung sind die Bildbetrachter/innen – trotz des geläufigen, geerdeten Motivs – etwas haltlos. Die Zelle präsentiert ein karges Interieur, das durch einen Durchblick mit tiefer Leibung zu erkennen ist. Der hellgraue Innenrand könnte sowohl eine trennende Glasscheibe oder eine Monitoroberfläche beschreiben. Zwei Gefangene sind etwas ungenau zu erkennen; sie könnten von dunkler Hautfarbe sein. Der eine liegt bäuchlings ausgestreckt auf einem Bett und wendet sich einem Stehenden zu, der mit seinem ausgestreckten rechten Arm gestikuliert. Das weiße Zimmer ist bis auf die angeschnittenen Konturen eines zweiten Bettes und einer Tischfläche gänzlich leer.

Wie stehen die beiden Bilder in Verbindung? Die Allee könnte sowohl der Ausblick aus der Zelle sein oder ein Erinnerungsbild an einen Ort, der mit dem persönlichen Schicksal der Gefangenen verknüpft ist. Bauer hat das Bild eines blühenden Kirschbaums aus der Tageslichtsituation in ein Negativbild und ästhetisch in eine Nachtsituation mit surrealem Licht verwandelt. Die reduzierte Farbigkeit passt zur Zelle mit den beiden Personen.

 Gerade die komprimierte Atmosphäre in der Zelle und die der Situation eigene prekäre Stimmung wecken die Anteilnahme der Betrachter/innen für die Abschiebehäftlinge. Ihr Recht auf Privatsphäre scheint sehr eingeschränkt, die natürliche Freiheit des Individuums ist hier offensichtlich nicht mehr gegeben. Norbert Bauers Gemälde ermöglicht eine Vielzahl von Reflexionen über die Vorgänge in diesem „Territorium“. Neben allen rechtlichen oder soziologischen Fragen steht die Auseinandersetzung mit dem philosophischen Begriff der Freiheit seit Jean Jacques Rousseau und seinen Diskursen der naturgegebenen Freiheit des Einzelnen im Selbst, bzw. der Selbsterhaltung, zur Disposition.12 Die Inhaberschaft und Urheberschaft der Freiheit scheint das eigentliche Thema des Bildes zu sein. Die Perspektive der Zellen-Szene und unsere Teilnahme am Gespräch der Insassen zwingen die Betrachter/innen auch zum Nachdenken sowohl über die Überwachung von Gefangenen durch Kamerasysteme, als auch über den Informationsaustausch von Gefangenen untereinander.13

Norbert Bauer hat diese zwei Bilder gefunden, aus ihrem erzählerischen Kontext gelöst und in einen neuen Zusammenhang gebracht. Sein Interesse an aktuellen politischen und gesellschaftlich relevanten Themen führt zwar zu den oben beschriebenen Bildern, doch trotzdem versteht der Künstler auch diese Arbeiten nicht als definitiv politisch.

Eine der ungewöhnlichsten Arbeiten ist sicherlich das Bild Projektion, Aufschlagstelle Luna 2 (2008).Grundlage bildet ein Dia, das der Maler im „Vitalen Archiv “ fand, einem Projekt der Künstlerin Sandra Kuhne. Norbert Bauer entdeckte dies denkwürdige Motiv unter der Rubrik „Große Momente der Kosmonautik. Die Sowjetunion hatte unter anderem Sonden zum Mond entsandt. Während Luna 1 den Mond nur umkreiste, ist Luna 2 als unbemannte Sonde 1967 auf dem Mond aufgeschlagen. Ob sie dann noch Daten übermittelt hat, ist nicht klar. Bauer hat durch das Dia nun Kenntnis von einem bemerkenswerten Ereignis. Auf der Ansicht des Mondes markiert ein kleiner Pfeil, wo die Sonde auf die Oberfläche des Mondes getroffen sein soll. Bei der Montage des kleinen Bildes in den Diarahmen verdeckten zwei Klebestreifen links und rechts als Abblendungen die Grenzen des kleineren Motivs, ähnlich des weißen Streifens in Norbert Bauers Gemälde Grenze. Die Betrachter/innen erkennen häufig allerdings nicht den Mond und meinen, in seiner Darstellung die Erde zu sehen. Der Mond, der traditionell eine große Rolle in der Kunst spielt, ist als Motiv in der zeitgenössischen Kunst sehr aktuell.14

Der nüchterne Blick, den die Arbeiten Norbert Bauers vermitteln, erinnert in seiner Objektivität und Allgemeinheit häufig an Positionen der zeitgenössischen Fotografie. Unter den Fotografen ist es mit Sicherheit Stephen Shore, der mit seinem nüchternen Blick auf die Schauplätze des Lebens in Amerika eine besonders große Nähe zu den Arbeiten Norbert Bauers aufweist.15 Anders allerdings als jener zeigt Bauer in seinen Arbeiten bevorzugt Orte, die im Prinzip überall sein könnten.Statt eines besonders deutschen Blicks überwiegt ein eher internationaler Charakter, der dem Medienzeitalter und der Globalisierung der Bilder Rechnung trägt.

Norbert Bauer hat darüber hinaus bei der technischen Ausführung der realistischen Motive eine malerische Qualität entwickelt, die eng an die Erscheinung fotografischer Wirklichkeitsvermittlung anknüpft. In den letzten Jahren hat der Künstler den engen Realismus zu Gunsten einer eher abstrahierten Wirkung verändert. In seinen Arbeiten verweigert Bauer konsequent die Wirkung des Handgemachten. Auch bei naher Betrachtung wirken seine Arbeiten nicht „gemalt“ im eigentlichen Sinne, weil der Künstler einen besonderen Duktus und sichtbare Pinselzüge vermeidet. Seine Arbeiten wirken zugleich wie „nicht von Menschenhand gemacht“ und haben doch höchste Individualität und eine authentische Wirkung. Allen Arbeiten des Künstlers gemeinsam ist eine suggestive und geradezu unheimliche Präsenz, die Norbert Bauer im zeitgenössischen Kunstbetrieb eine nachhaltige Wirkung sichert.

 

Colmar Schulte-Goltz ist Gründer der Galerie kunst-raum schulte-goltz+noelte in Essen und als Kurator für junge Kunst am Stadtmuseum Hattingen tätig. Der Kunsthistoriker ist Autor zahlreicher Essays und Monografien zur zeitgenössischen Kunst.

 

1 Im Medium Fotografie ist besonders Thomas Demand mit seiner Verwertung von Medienbildern einer der international bekanntesten Künstler, vgl. den Katalog Thomas Demand, Museum of Modern Art New York 2005.

2 Die medialen Muster finden sich bereits seit 2002 im Computerprogramm der Firma Sierra Entertainment, mit dem der Amokläufer von Erfurt trainiert hat, wie damals die FAZ berichtete, vgl. FAZ, 28.April 2002, Nr.17, S.21.

3 Ingeborg Harms: Karl Lagerfeld, S. 14-17, in: Stilikonen Nr. 1, 2009, hier S. 15.

4 Thomas Struths Aufnahmen seiner „Paradiese“ entstanden in den letzten Jahren in China, Japan, Australien, Brasilien – und Deutschland, besonders im Bayrischen Wald, wo auch Norbert Bauer fündig wurde, vgl. Ausst.-Kat. Thomas Struth. New Pictures from Paradise, Universität von Salamanca, 2002 und Staatliche Kunstsammlungen Dresden 2002, München 2002, Text von Ingo Hartmann o. P.. vgl. die Abbildungen Cat 7851 Paradise 19 Bayrischer Wald (Near Zwiesel) / Germany1999 und Cat. 7911 Paradise 25 Yudquehy Brazil, 2001.

5 Diesen Eindruck teilt auch Hans Rudolf Reust im Zusammenhang seiner Reflexionen über die Waldbilder der Serie Paradiese von Thomas Struth, wenn er feststellt, „dass sich zu den Waldpartien aus allen Ländern eine überraschende Nähe und Vertrautheit einstellt.“ Vgl. Hans Rudolf Reust: Das Paradies der Dschungel, In: Ausst.-Kat. Thomas Struth. München 2002, o.P.

6 Vgl. dazu die Aufnahme von Thomas Struth, Cat 7851 Paradise 19, Bayrischer Wald (Near Zwiesel) / Germany 1999 aus dem besprochenen Katalog.

7 Jasper Johns revoltierte gegen den damals die aktuelle Malerei bestimmenden abstrakten Expressionismus. Seine Arbeiten gelten heute als entscheidender Einschnitt der Kunstgeschichte, die auch häufig als frühes Popart-Emblem gesehen wird. Seine "Zielscheibe" von 1955 ist genauso auf den Sehsinn bezogen. Johns wesentliche Botschaft berührt das Wesen des Bildes, dessen Materialität er besonders betont. Max Imdahl: Gesammelte Schriften herausgegeben und eingeleitet von Angeli Jahnsen-Vukicevic, Frankfurt 1996, Bd. 1. Zur Kunst der Moderne, S. 147-159, hierv S.148.

8 Mark Francis: Der späte Warhol, In: Ausst.-Kat. Andy Warhol The Late Work, Bd. Texte, museum kunst palast Düsseldorf 2004, S.8-9, hier S.9.

9 Unter anderem in den Videoarbeiten von Lonnie van Brummelen in ihrer Arbeit Großraum Hebnree, Ceuta, Nicosia 2004-05, einem 35 mm Film mit begleitender Publikation. The Formal Trajectory 35‘00“ ist eine aktuelle Auseinandersetzung über die Vorgänge an Grenzen während des Tages, vgl. Ausst.-Kat. Number One: Destroy She said. Julia Stoschek Collection, Düsseldorf, 2007, Ostfildern 2007, S. 129.

10 Die Arbeit regt an zum Diskurs über den Begriff des Ausnahmezustands, der schon bei Friedrich Nietzsche erscheint. Kulturphilosophen wie Yana Milev beschäftigen sich ganz aktuell mit dem Ausnahmezustand und der Begriffsgenese seit Hobbes und Hegel bis zu Foucault und Gamben. Yna Milev: Emergency Empire – Souveränität. Transformationen des Ausnahmezustands, Wien und New York 2009.

11 Walter Benjamin: Zentralpark, Frankfurt a. M. 1955, S. 246.

12 Jean Jacques Rousseau: Staat und Gesellschaft, Contract Social, Grundlegende Gedanken zu einer neuen Gesellschaftsordnung, München: Wilhelm Goldmann 1959, S. 94.

13 Vgl. Yna Milev: a. a. O., Nachrichtenbeschaffung, S.107-110, hier S. 107.

14 Um nur ein Beispiel zu nennen, sei auf die Arbeit der Videokünstlerin Heike Baranowsky und ihre Videoinstallation „Mondfahrt“ 2001 verwiesen. Vgl. Ausst.-Kat. Number One: Destroy She said. Julia Stoschek Collection, Düsseldorf, 2007, Ostfildern 2007, S.93.

15 Garry Badger: Die Kunst, die sich verbirgt, Anmerkungen zum stillen Wesen der Fotografie. Vgl. Ausst.-Kat. How you look at it. Fotografien des 20. Jahrhunderts, Sprengel-Museum Hannover, Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie, Frankfurt a. M., S.76.