Die Relevanz der Verallgemeinerung
von Oliver Zybock (aus dem Katalog "Territorium", 2009)
Im Hinblick auf die Omnipräsenz von Bildern stellte der Kunstwissenschaftler Hans Belting bereits vor einigen Jahren fest, dass diese kaum noch eine Wahl lässt, sich für bildlose Erfahrungen zu entscheiden, da wir es mit einem „weltumspannenden Netz einer unbegrenzten Bildproduktion zu tun haben, der wir kaum noch entfliehen können.“ In fast allen Lebensbereichen nimmt die bildliche Darstellung von Sachverhalten und die Informations- und Wissensvermittlung durch Bilder eine entscheidende Rolle ein. So funktioniert zum Beispiel keines der zahlreichen, immer komplexer werdenden mobilen elektronischen Tools, ob Organizer, Messenger, Telefon, Kamera, iPod oder Spielkonsole, ohne Bilder. Anders als die Schrift oder die gesprochene Sprache besitzen Bilder den großen Vorteil, unabhängig von kulturellen Kontexten und Sprachkenntnissen verständlich zu sein. Für kommende Generationen wird die Kommunikation und Wissensvermittlung über Bilder und elektronische Medien immer selbstverständlicher.
Für den in Bremen lebenden Künstler Norbert Bauer sind massenmedial genutzte Bilder Grundlage für seine Bildfindungsprozesse. Dabei verwendet er vorgefundene Fotografien, Filmstills oder digitale Bilder. Um die Motive zu vereinfachen, gleichzeitig zu präzisieren und sie somit auf Konturen und Flächen zu reduzieren, setzt er das Stilmittel der Tontrennung ein und bearbeitet sein Material, indem Bilder collagenartig zerlegt und einzelne Elemente von ihrer Umgebung isoliert werden. „Die offensichtliche Künstlichkeit der Bilder durch die Tontrennung,“ beschreibt Bauer sein Verfahren, „soll sie natürlich auch von illusionistischen Mal- und Darstellungsweisen abgrenzen, um es stilgeschichtlich auszudrücken z. B. vom Fotorealismus, der auf eine angebliche Realität hinter dem Gezeigten ebenso verweist wie auf die spezifische Ästhetik der Fotografie.“ Seine Vorlagen, die später vergrößert und mit einer Pause auf den Malgrund übertragen werden, setzen sich aus Zeichnungen, Fotokopien und digitalen Bildbearbeitungsmethoden zusammen. Die Überbleibsel der ursprünglich detailreichen Fotografien werden vom Künstler patchwork- bzw. comicartig zusammengesetzt. Dadurch ergibt sich in der Fernwirkung für den Betrachtenden immer noch ein reichhaltiges Ganzes, aber aus der Nähe betrachtet, zerfallen die Bilder in Abstraktionen, die lediglich Erinnerungen an allgemeine Bilder wachrufen. Ein Porträt ist immer eine reduzierte Idealkonstruktion, eine Landschaft stets das Produkt der Vorstellung von einer Landschaft, die jeder Betrachter imaginiert. So gesehen arrangiert Bauer Vorstellungsbilder. Deshalb erscheinen die Motive zunächst weitgehend frei von aktuellen oder historischen Bezügen. Das Gemälde „Park“ (2004) zum Beispiel zeigt einen Mercedes, dessen Beifahrertüren geöffnet sind. Die Art der malerischen Darstellung könnte vor allem für viele Deutsche sofort Assoziationen zu einem in den Medien weit verbreiteten Foto aus dem Jahre 1977 wecken. Dieses zeigt das stark beschädigte Fahrzeug des von der RAF entführten damaligen Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, davor die mit einem Tuch abgedeckte Leiche eines Leibwächters. An Bauers Auto sind keine Beschädigungen zu erkennen, lediglich einige Blatt Papier liegen verstreut auf der Straße umher. Selbst das Modell des Mercedes stimmt mit der fotografischen Vorlage nicht überein, es handelt sich um einen Fahrzeugtypen aus den 1980er Jahren. Auch im Titel sind keine Anspielungen zu finden, so verweist lediglich die perspektivische Darstellung auf ein für die jüngste deutsche Geschichte bedeutsames Ereignis. Das Gemälde „Park“ veranschaulicht, dass Bauers Interesse in der Auseinandersetzung mit den vielschichtigen, zum Teil unterschiedlichen Bedeutungsebenen von Bildern liegt. Durch das Herauslösen der Motive aus ihrem ursprünglichen medialen Kontext und den Transfer in das Medium der Malerei ändert sich ihr ursprünglicher Informationsgehalt. Bauer erweitert den medialen Kreislauf seiner fotografischen Vorlagen, indem er die zunächst inhaltlich und formal eindeutig konnotierten Motive verallgemeinert. Durch die Technik seiner Malweise reduziert und abstrahiert er zugleich die massenmedial eingesetzten Darstellungen.
Der Aspekt der Verallgemeinerung lässt sich auch in einer Porträt-Reihe aus dem Jahr 2007 nachvollziehen. Bereits der Titel „4-4-2 – Kategoriale Reihe“ deutet auf eine physiognomische Generalisierung hin. Durch die Zahlenreihe, die ein Spielsystem im Fußball bezeichnet (4 Verteidiger, 4 Mittelfeldspieler, 2 Angreifer), wird auf die Anzahl der Porträts verwiesen, gleichzeitig aber auch auf dogmatische Auslegungen systemischer Eigenschaften. Der Begriff „kategorial“ verstärkt den Eindruck einer Behauptung. Dargestellt sind Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben, Schriftsteller/innen, Wissenschaftler/innen und Künstler/innen (u. a.). Durch ihre reduzierte malerische Präsentation in gedämpfter Farbigkeit entsteht der Anschein, die Porträts ergeben eine sinnvolle Zusammenstellung. Eine über das Sichtbare hinaus gehende Bedeutung scheint also vorhanden, obwohl die Personen in keinerlei Beziehung zueinander stehen. Die einzige Gemeinsamkeit liegt darin, dass alle bereits verstorben sind. So erfolgte die Zusammenstellung der Porträts durch den Künstler auch fast zufällig. Die durch die Farbigkeit und Maltechnik erzeugte Uniformität bzw. Verallgemeinerung der Persönlichkeiten wird nur durch deren eigentümliche physiognomische Merkmale gebrochen. Die hohe Stirn von Niklas Luhmann zum Beispiel, die nach Aussage des Physiognomikers Johann Caspar Lavater auf außerordentliche Intelligenz schließen lässt, oder die üppige Haarpracht von Susan Sontag, die für den Naturwissenschaftler und Schriftsteller Giambattista della Porta Merkmal einer starken Persönlichkeit sind, deuten auf die jeweilige individuelle Besonderheit der äußeren Erscheinungen. Auch wenn diese Versuche aus dem 16. bis 18. Jahrhundert, anhand der äußeren Erscheinung generalisierend Rückschlüsse auf den Charakter der jeweiligen Personen zu ziehen, heute keine Gültigkeit mehr haben, erhält die Untersuchung der Physiognomie in Bauers malerisch-schematischen Verallgemeinerungen massenmedialer Bilder durch seine reduktive Methode eine neue Relevanz.
Einer der wichtigsten Vertreter der amerikanischen Pop Art, Roy Lichtenstein, thematisierte in seiner Malerei die lineare und farbliche Schematisierung, die mit der Bildreproduktion im Printmedium unter anderem beim Comic einhergeht und damit die Mechanismen der in einem mehrteiligen Druckprozess erfolgenden Vervielfältigung von Bildvorlagen. Stärker als bei Bauer kam es bei ihm zu formalen Vereinfachungen, Abstraktionen, die aber ebenfalls nur aus der Nähe wahrzunehmen sind. Dient die formale Abstraktion im gedruckten Comic der Reduzierung auf das Wesentliche im Zuge einer Ökonomie der bildnerischen Mittel sowie der Vereinfachung im Sinne eines Wiedererkennungswertes von Schauplätzen und Figuren, so verstärkte Lichtenstein diesen Abstraktionsprozess. Die Reduktion von Form und Farbe auf ein Minimum spielte bei ihm eine bedeutende Rolle. Wie bei Lichtenstein steht auch bei Bauer die Frage nach der Bildtauglichkeit massenmedialer Bilder im Vordergrund.
Im Bildgebrauch lassen sich historische Parallelen erkennen, die epochenbedingt jeweils anderen Bildmedien und Kontexten angehören. Das Credo „Images need to be shared“, das im Zeitalter von Print- und Fernsehmedien sowie Internet gleichermaßen vertreten und verbreitet wird, hat eine frühe Analogie im Gebrauch des kaiserlichen Porträts durch Augustus, der sein in Münzen eingeprägtes Bildnis an das römische Volk verteilen ließ und dadurch im ganzen Land präsent war. Ähnliches gilt für Andy Warhols „Expose yourself“. Die in diesem Ausspruch enthaltene Aufforderung zur Selbstinszenierung war nicht erst seit den 1960er Jahren ein Thema, um die individuelle Rolle innerhalb eines gesellschaftlichen Kontextes zu demonstrieren. Bereits Ludwig XIV. hatte die Selbstinszenierung in hohem Maße perfektioniert und war damit stilbildend für eine ganze Epoche. Bauer hat das Thema in seinen beiden kleinformatigen Porträts „Spectre I + II“ (2007) bearbeitet. In matter schwarz-grauer Farbgebung ist schemenhaft das Porträt von ein und derselben Person zu erkennen. In den helleren Partien ist ein Goldton beigemischt, der die Farben zwischen blau-grau und rot-braun leicht irisieren lässt. Beide Arbeiten basieren auf Filmmaterial, dass der Amokschütze Cho Seung-Hui von sich selbst anfertigte und welches nach seiner Tat im Frühjahr 2007 an der Virginia Tech University in Blacksburg in vielen Zeitungen, Fernsehsendungen und im Internet zu sehen war. „Neben der eigentlichen Tat war es die Eindringlichkeit seiner medialen Selbstinszenierung und –stilisierung,“ so Bauer, „die ihn für einen Augenblick zu einer Berühmtheit werden ließ. Diese mit Symbolen und Zeichen aufgeladene Selbstinszenierung, in Verbindung mit der vollzogenen Tat und ihrer medialen Verbreitung, hat Seung-Hui selbst zum Icon werden lassen.“
Eine weitere historische Parallele hinsichtlich des „Gebrauchs von Bildern“ führt zur frühen niederländischen Malerei: Der Blick aus dem Fenster, mit dem Jan van Eyck erstmals einen realistischen Blick auf die Außenwelt in die bis dahin hermetisch abgeschlossene Welt der Bilder einführte, lässt sich heute durchaus mit dem Blick aus dem „Fenster“ eines Fernsehbildschirmes vergleichen, der die „äußere“ Welt in den abgeschlossenen Raum des heimischen Wohnzimmers überführt. Bill Gates bezeichnete das von Microsoft entwickelte Betriebssystem Windows als „Fenster“ und übertrug somit die scheinbar konventionelle Auffassung der Renaissancekünstler, ein Tafelbild sei ein Fenster zur Welt, auf das Display des Computers. Und wenn Felix Burda, von zeitgenössischer Videokunst ausgehend, in den Bildräumen barocker Deckengemälde Manifestationen von Vorstellungsräumen erkennt, vergegenwärtigt er medienübergreifend eine über Jahrhunderte gewachsene Leistung von Künstlern und Künstlerinnen.
Derartige historische Vergleiche führen spezifische Bedeutungen der Medien unserer eigenen Zeit vor Augen. Die Rückbesinnung auf historische Tatsachen und ihr Transfer in die Gegenwart kennzeichnen bereits den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit und werden dementsprechend als Renaissance bezeichnet. Norbert Bauer nutzt konsequent die sich durch neue Technologien ergebenden Möglichkeiten, um Bilder zu generieren, zu archivieren und zu vervielfältigen. Auch wenn seine fotografischen Bildquellen motivisch auf ein Minimum reduziert sind, nimmt er ihnen die anhaftende Flüchtigkeit, denn „Medienbilder sind schnelle Bilder,“ wie Regina Michel in einem Gespräch mit dem Künstler anmerkt. „Schnell veröffentlicht, schnell reproduziert, aber auch schnell vergessen.“